Lesetipp Georg Leß

Georg Leß’ neuer Gedichtband

Georg Leß ist 1981 in Arnsberg geboren und in Neheim aufgewachsen, er lebt heute in Berlin. Vor sieben Jahren las er aus seinem Gedichtband SCHLACHTGEWICHT (parasitenpresse 2013) für die LGA im BOGEN und vor drei Jahren aus dem Band DIE HOHLHANDMUSIKALITÄT (kookbooks 2019). Aktuell ist ein Lyrikheft, schön gestaltet mit silbergrauem Feinleinen-Umschlag, erschienen, das den Titel DIE NACHT DER HUNGERPUTTEN (kookbooks Verlag, Berlin 2023) trägt. Ein avantgardistischer Gedichtband für Buchliebhaber hermetischer, surrealistischer Texte. Ein erster Annäherungsversuch ergibt sich aus einer kurzen Zusammenstellung folgender Sequenzen:

fällt eine Handvoll Putten auf die Erde …
mitten in Betten ohne Wärme, dass die Daunen stieben …
Daunenwolken ringsumher, flaumig umwölkte Knochensplitter …
warst das nicht du, eine schaurige Idee /
in der Regenzeit am Genfer See? …
frisst eine Putte eine Person /
wird die Person zur Putte, Biochemie, die Putte zur Person, Jagdmagie /
was frisst die Person? …

Ein Ausgangspunkt zum Weg in die chiffrierte und grammatisch segmentierte Gedankenwelt der Gedichte könnte die „Regenzeit am Genfer See“ liefern. Aus der Literaturgeschichte der Schauerromantik wird die Entstehung populärer Sagen von Blutsaugern und dem Monster Dr. Frankensteins auf die klimatischen Bedingungen des Jahres 1816 zurückgeführt. In der Villa Diodati am Genfer See hatte sich eine illustre literarische Gesellschaft um den Bohemien Lord Byron versammelt: sein Leibarzt William Polidori, Percy und Mary Shelley sowie deren Stiefschwester. Infolge des Ausbruchs eines indonesischen Vulkans, der den Himmel langfristig verdunkelte, schlug der verregnete Sommer auch aufs Gemüt der Touristen am Genfer See, und passend zur entstandenen Endzeitstimmung initiierte Lord Byron einen Schreibwettbewerb, wonach eine Reihe von Schauer- und Gespenstergeschichten entstanden. Eine adäquate „schaurige Idee“ liegt auch den Gedichten über die Nacht der Hungerputten zugrunde. Ein ganzes Geschwader dieser Wesen bricht durchs Dach eines Möbelhauses und erzeugt nicht nur chaotischen Sachschaden, sondern auch körperliche Traumata. Der Ein- und Überfall der gefräßigen Hungerputten in den Alltag gipfelt in eine unvorstellbar-apokalyptische Unordnung.

sich sacht abschlachten über die Jahre /
mal hiermit, mal damit /
näher, du siehst es ja /
hier, da

Dürer: Melancholia I

Dass der allegorische Hintersinn der Putten, die man zunächst mit amorettenhaften Knabenfiguren assoziiert, auch ins Gruselige umschlagen kann, zeigt die Darstellung einer solchen Gestalt im Kupferstich Melancholia I von Albrecht Dürer. Der Gesichtsausdruck vermittelt das Gegenteil von engelhafter Unbeschwertheit und bewirkt das Gefühl des bedrohlich Unheimlichen.

In diese Richtung weisen auch die Gedichte in die NACHT DER HUNGERPUTTEN von Georg Leß.

Die Texte folgen dem Muster einer monströsen Dekonstruktion, sowohl bezüglich der bildlichen Vorstellungsbereiche als auch der Folgerichtigkeit der Textbausteine. Für den Leser heißt das, auf den roten Faden zu verzichten und sich den Gedichten assoziativ zuzuwenden. Wer sich darauf einlässt, erlebt eine neuartige literarische Kontingenzerfahrung, die aber zu den Absurditätserfahrungen unserer Alltagswahrnehmungen zu passen scheint. (JGS)

Georg Leß

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