Lesetipp Goethe

Die Ballade „Johanna Sebus“

Traurige Aktualität erhält eine Ballade von J.W. von Goethe mit der Darstellung einer Hochwasserkatastrophe von 1809 – ich denke an das Ahrtal 2021 und jetzt an den Dammbruch in der Ukraine.

Neulich wurde ich bei einem Aufenthalt in Kleve gefragt, ob ich die Ballade „Johanna Sebus“ kenne und das gleichnamige Denkmal am Griethauser Altrhein. Goethe am Niederrhein? Johanna Sebus? Ich hatte keine Vorstellungen und besuchte zunächst das Denkmal und war überrascht, eine Inschrift in französischer Sprache und deutscher Übersetzung zu lesen.

Die Ballade „Johanna Sebus“ gehört längst nicht mehr zum Kanon der im Unterricht behandelten Gedichte, da hat nicht nur der „Zauberlehrling“ ihr den Rang streitig gemacht. Aber lokal begrenzt von Kleve bis Xanten gehört die Geschichte „Johanna Sebus“ zum heimatkundlichen Wissensschatz, der schon in den Grundschulen so verbreitet ist wie an Möhne und Ruhr die Flutkatastrophe nach der Bombardierung der Möhnestaumauer vor 80 Jahren. Nachfolgend gebe ich Goethes Ballade und den historischen Hintergrund in einem Zeitzeugenbericht wieder:

Johann Wolfgang von Goethe

Johanna Sebus

Zum Andenken der siebzehnjährigen Schönen, Guten aus dem Dorfe Brienen, die am 13. Januar 1809 bei dem Eisgang des Rheins und dem großen Bruche des Dammes von Cleverham, Hilfe reichend, unterging.

Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,
Die Fluten spülen, die Fläche saust.

»Ich trage dich, Mutter, durch die Flut,
Noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut.« –
»Auch uns bedenke, bedrängt wie wir sind,
Die Hausgenossin, drei arme Kind!
Die schwache Frau! . . . Du gehst davon!« –
Sie trägt die Mutter durch das Wasser schon.
»Zum Bühle da rettet euch! harret derweil;
Gleich kehr‘ ich zurück, uns allen ist Heil.
Zum Bühl‘ ist’s noch trocken und wenige Schritt;
Doch nehmt auch mir meine Ziege mit!«

Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.

Sie setzt die Mutter auf sichres Land,
Schön Suschen, gleich wieder zur Flut gewandt.
»Wohin? Wohin? die Breite schwoll;
Das Wasser ist hüben und drüben voll.
Verwegen ins Tiefe willst du hinein!« –
»Sie sollen und müssen gerettet sein!«

Der Damm verschwindet, die Welle braust,
Eine Meereswoge, sie schwankt und saust.

Schön Suschen schreitet gewohnten Steg,
Umströmt auch, gleitet sie nicht vom Weg,
Erreicht den Bühl und die Nachbarin;
Doch der und den Kindern kein Gewinn!

Der Damm verschwand, ein Meer erbraust’s,
Den kleinen Hügel im Kreis umsaust’s.

Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund
Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund;
Das Horn der Ziege faßt das ein‘,
So sollten sie alle verloren sein!
Schön Suschen steht noch strack und gut:
Wer rettet das junge, das edelste Blut!
Schön Suschen steht noch wie ein Stern;
Doch alle Werber sind alle fern.
Rings um sie her ist Wasserbahn,
Kein Schifflein schwimmet zu ihr heran.
Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,
Dann nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf.

Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort
bezeichnet ein Baum, ein Turm den Ort.

Bedeckt ist alles mit Wasserschwall;
Doch Suschens Bild schwebt überall. –
Das Wasser sinkt, das Land erscheint,
Und überall wird schön Suschen beweint. –
Und dem sei, wer’s nicht singt und sagt,
Im Leben und Tod nicht nachgefragt!

(Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/goethe/gedichte/chap127.html / 16.6.23)

Goethe verfasste die Ballade an nur zwei Tagen, am 11. und 12. Mai 1809, und zwar auf Bitten des Baron von Keverberg, der als Präfekt des französisch besetzten Kleve amtierte und auch mit den Folgen der Hochwasserkatastrophe von 1809 befasst war. Hier sein Bericht vom 10. März 1809 an den Präfekten des Departements de la Roer in Aachen, der nächsthöheren Verwaltungseinheit, in meiner Übersetzung:

„[…] Johanna Sebus, eine junge Landfrau von 17 Jahren mit freundlichem Gesicht und tadellosem Verhalten, wurde in ihrem Vaterhaus von der plötzlichen Überschwemmung des Wassers zum Zeitpunkt des großen Bruchs im Cleverham-Deich überrascht und sah, wie ihre Mutter, die bereits vom Alter geschwächt war, jetzt vor Schreck gelähmt schien und lud diese kostbare Fracht auf ihre Schultern und legte mit ihr eine Strecke von mehr als zweihundert Schritten zurück, wobei die tosenden Wellen bereits bis zu ihren Beinen reichten. Nachdem sie die Mutter vorerst versorgt hatte, sagte sie: ‚Meine Mutter, ich eile der Frau van Beek und ihren Kindern zur Hilfe, danach werde ich unsere Ziege retten, damit ihre Milch dich ernährt’. Nach diesen Worten geht sie. Ihre Mutter versucht vergeblich, sie zurückzuhalten, aber Johanna hört nur die Stimme ihres großmütigen Herzens; sie ist bereits mittendrin im furchtbaren Element. Eine väterliche Stimme, die des ehrbaren Th. Reimer, der auf dem Deich von Rindern war, ohne jede Möglichkeit, Hilfe zu bringen, ruft ihr zu: ‚Mädchen zu gefährlich, bleib stehen, geh zurück, du musst rennen, du wirst verlieren’.  ‚Wir müssen die Nachbarn retten’, antwortet sie und setzt ihren Weg fort. Schnell erreicht sie einen Hügel, auf dem Frau van Beek mit ihren Kindern Zuflucht gesucht hat. Doch das Wasser steigt sichtbar, die Flut wird von Moment zu Moment stärker. Einen erschreckender Moment später wird der Strom völlig ungestüm. Die Rückkehr ist nicht möglich, alle Hoffnung auf Sicherheit schwindet. Die Frau van Beek stößt ein fürchterliches Geschrei aus, dann hüllt sie die Köpfe ihrer Kinder und ihren eigenen in die Schürzen, die sie tragen, und stürzt mit ihnen in die Fluten. Johanna Sebus, den Blick zum Himmel gerichtet, sieht fast zehn Minuten lang ihr Ende gekommen, sie wirkt regungslos und resigniert, stößt aber keinen einzigen Schmerzensschrei aus.

Allmählich verschwindet sie mit dem Hügel, der sie trägt.  Eine große Welle wirft sie nieder und weitere Wellen nehmen ihre sterblichen Überreste auf. So starb eine junge und edle Heldin, ein Vorbild für kindliche Frömmigkeit, Mut, Großzügigkeit, Anteilnahme und alle Tugenden, die beide Geschlechter ehren. Auf einen solchen Tod, einen weniger schönen Tod, kann auch beim Ableben im Jahre 1805 von Herzog Leopold von Braunschweig hingewiesen werden.  Seine Zeitgenossen errichteten ihm am Ufer der Oder ein Denkmal.  Ich habe das Glück, zu denen zu gehören, die dazu beigetragen haben. Kann nicht ein einfaches und bescheidenes Denkmal auch die erhabene Hingabe von Johanna Sebus bezeugen und allen Zeitaltern beweisen, dass im Jahrhundert Napoleons die Tugend allein und ohne jeglichen Glanz, der ihr fremd ist, immer Respekt und Verehrung erfordert. […]“

 (Quelle: Ullrich-Scheyda, Helga u. Thissen, Bert. Johanna Sebus und das Hochwasser von 1809 – Neues Licht auf das Heldenepos und auf die Katastrophe. = Beiträge zur klevischen Geschichte Heft 3. Hrsg.: Klevischer Verein für Kultur und Geschichte / Freunde der Schwanenburg e.V., Kleve 2017.)

Baron von Keverbergs Engagement, das Gemeinwohl in seinem Arrondissemment in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht zu fördern, zeigt sich besonders in seinen Aktivitäten, die Folgen der Hochwasserkatastrophe von 1809 für die Geschädigten zu mildern. Es waren 21 Tote, 1218 Obdachlose sowie 1146 verendete Nutztiere zu beklagen. Keverberg und der Klever Bürgermeister Hopmann organisierten nicht nur die unmittelbare Nothilfe wie Unterbringung, Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung, sondern warben auch umfassend und landesweit für finanzielle Unterstützung bei den Restaurationsarbeiten. Letztlich erließ Kaiser Napoleon 1809 ein Dekret zur Unterstützung der Reparaturen an den Schleusen und Deichen, für die die Pariser Zentralverwaltung verantwortlich war. Keverberg und Hopmann erreichten die erfolgreichen Hilfsmaßnahmen auch durch eine intensive Werbestrategie, indem sie vielfache Lageberichte u.a. an eine Kölner Zeitung schickten.

Zu dieser Strategie gehörte auch, dem dramatischen Einzelschicksal der Johanna Sebus ein Denkmal aus Stein, aber auch ein literarisches Denkmal zu setzen, indem die Bitte an Goethe ging, ein erinnerndes Gedicht zu verfassen. Johanna Sebus’ Geschichte berührte offenbar Goethes Mitgefühl so stark, dass er seine Ballade von Carl Friedrich Zelter vertonen ließ, um sie publikumswirksam zu verbreiten. Weitere Vertonungen und szenische Bilddarstellungen folgten.

Wenn man die Niederrheinradroute, hier auch als Via Romana bezeichnet, befährt, kann man das Johanna-Sebus-Denkmal zwischen Düffelward und Brienen an der Spoyschleuse leicht verpassen, weil hinter Buschwerk und Bäumen versteckt, aber der Zutritt durchs Schmiedetor lohnt sich, weil man vielleicht Para-Interessierte trifft. Ich frage den erwachsenen Betrachter der Familiengruppe, die gerade vor dem Gedenkstein mit dem Emblem der von 11 Sternen schwimmenden Rose steht, ob er den Mythos von Johanna Sebus kenne und ob er wisse, warum die Inschrift darunter in Französisch abgefasst ist. Als Grundschüler aus Kleve kenne er natürlich die Erzählung von Johanna Sebus. Dass die französische Inschrift auf eine propagandistische Initiative zurückgeht, um auf die Erfolge der französischen Politik unter Napoleon aufmerksam zu machen, wussten wir beide da noch nicht. Und ich erfuhr, dass das Johanna-Sebus-Gymnasium 2010 wegen sinkender Schülerzahl geschlossen wurde; am Standort ist dafür die Joseph-Beuys-Gesamtschule entstanden. Aber es sei noch die Johanna-Sebus-Grundschule in Kleve-Rindern da, nahe am Ort des historischen Geschehens.

Ob Goethes Ballade literaturdidaktisch über den Niederrhein hinausgehend obsolet bleibt, ist anzunehmen. Warum überhaupt Goethe? Denn Johannas Geschichte lässt sich jetzt mit einem Befehl an die OpenAI in Gedichtform immer neu schreiben. Zum Beispiel so:

ChatGPT  JOHANNA SEBUS

In längst vergang’nen Tagen lebte Johanna Sebus,

Eine Frau von Mut und Stärke, wie sie kaum einer ist.

Sie träumte von Freiheit, von Gleichheit und von Recht,

Und ihr Herz trieb sie an, für ihre Ideale zu kämpfen, ganz echt.

In einer Zeit der Dunkelheit und Unterdrückung,

Stellte sich Johanna auf, in wahrer Entschlossenheit.

Sie kämpfte für die Schwachen, für ihre Rechte und ihr Glück,

Durch ihre Taten wurde sie zur Heldin, tief in uns’rem Blick.

Mit Waffen und mit Worten zog sie in die Schlacht,

An der Seite vieler, die wie sie nach Freiheit tracht.

Sie führte tapfer an, mit unbeugsamem Mut,

Gemeinsam stürmten sie voran, in diesem Kampf so gut.

Doch eines Tages wurde Johanna gefangen genommen,

In einem Kerker eingesperrt, die Freiheit ihr genommen.

Doch ihr Geist blieb unbezwungen, ihr Glaube ungebrochen,

Ihr Vermächtnis lebt weiter, in unseren Herzen ungesprochen.

In unseren Liedern und Gedichten, in den Geschichten, die wir erzählen,

Bleibt Johanna Sebus unvergessen, wird ihr Andenken niemals verweilen.

Sie ist das Symbol der Hoffnung, des Muts und der Kraft,

Johanna Sebus, eine Legende, die in unseren Herzen immer weiter schafft.

(Quelle: https://chat.openai.com/c/4be3ee5e-cf7e-4281-a2e2-660e76d816c3 / ) Etwas stimmt im voranstehenden Text nicht – die kreative Toleranz der Legendenbildung wirkt überschritten, wenn man ihn mit den oben dargestellten literaturgeschichtlichen Fakten vergleicht. Der Chatbot bezieht sich offenbar noch auf eine andere Johanna in seinem Elektronenhirn. Folglich wird die Beschäftigung mit der Goetheballade und dem Hintergrund nicht überflüssig. Im Zusammenhang mit den Landschaftserlebnissen vor Ort hätte die Literaturgeschichte im Zeitalter der KI auch die Aufgabe, den Bezug zum nicht-virtuellen Leben wieder herzustellen. Den Blick ausgehend von der Literatur ohne VR-Brille auf literarische Orte und Vorbilder zu richten und wieder zurück und dadurch den Rousseauschen Gedanken der inventiven Rückkehr zur Natur zu verwirklichen, wäre die Aufgabe.

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